In dem Buch „Whole Earth Discipline: An Ecopragmatist Manifesto“ aus dem Jahre 2009 stellt der Umweltaktivist Stewart Brand sein Konzept von Ökopragmatismus und „Planetcraft“ vor: Wir Menschen können und sollen die volle Verantwortung für das Wohlergehen der Erde übernehmen. Um dieser Verantwortung nachzukommen braucht es mehr als nur einzelne politische Gruppierungen oder Ideologien – dazu ist die Aufgabe zu groß.
Anhand der Beispiele Urbanisierung, Kernkraft, Gentechnik, Rewilding und Geoengineering zeigt Brand auf, wo die klassische Umweltbewegung seiner Meinung nach zu kurz denkt. Deswegen ruft er zu einer neuen umfassenden Umweltbewegung auf, die sich pragmatisch und lösungsorientiert für eine bessere Welt einsetzt.
Das Buch beschreibt die Philosophie hinter dem Ökopragmatismus und „Plantecraft“. Technische Details oder ein konkreter Weg, diesen Philosophien zu folgen, sind kein Teil des Buchs.
An manchen Stellen ist das Buch etwas in die Jahre gekommen. Am drastischsten sieht man das an dem Kapitel über die Kernkraft, der Brand eine blühende Zukunft vorhersagte. Zwei Jahre nach dem Buch kam es zum Reaktorunglück von Fukushima und die öffentliche Meinung von Kernkraft sank stark ab.
Sonderpunkte bekommt Brand von mir auf sein Buch, weil er sich so herrlich verachtend über andere Vordenker der Umweltbewegung auslässt. Er nennt Rifkin einen Schwachkopf für dessen ablehnende Haltung gegenüber Gentechnik und Lomborg einen „Igel“, einen Menschen der nur genau eine große Idee hat und nur diese starr verfolgt.
Wie fand ich das Buch?
Die zentrale Aussage des Buches lässt sich in etwa so formulieren: Der Klimawandel stellt uns vor eine nie dagewesene Herausforderung. Wir sind im Zeitalter des Anthropozän, dem Zeitalter wo wir Menschen der einflussreichste Faktor für die Gestaltung der Erde sind. Und dieser Verantwortung sollten wir nachkommen, indem wir „Planetcraft“ betreiben. Wir haben die Möglichkeiten und in der Folge auch die Verpflichtung, die volle Verantwortung für den Planeten zu übernehmen.
Die Probleme des des Klimawandels sieht er als lösbare Herausforderungen, für die angemessene Lösungen entwickelt werden müssen. Dieser Verantwortung können wir nur nachkommen, wenn wir Ideologien hinter uns lassen. Er ruft dazu auf, wie ein Ingenieur zu denken. Ergebnisse und Lösungen sollen im Vordergrund stehen statt politischer Lager oder Ideologien. Diese Denkweise nennt er Ökopragmatismus.
Dann geht er auf vier Themenbereiche in denen er sich solche pragmatischen Lösungen wünscht – Drei Themen, die die klassische Umweltbewegung ablehnt und ein Thema, dass wir noch viel weitreichender betreiben sollten: Urbanisierung, Kernkraft, Gentechnik, Rewilding und Geoengineering.
These 1: Urbanisierung ist gut für den Planeten.
Überall auf der Welt zieht es die Menschen in die Städte. Denn Städte versprechen den Menschen eine Aussicht auf ein besseres Leben.
Auf dem Lland leben viele Menschen als Substanzfarmer, die gerade so mit den angebauten Lebensmitteln über die Runden kommen. Sie verbringen ihre Tage mit harter körperlicher Arbeit und eine Dürre oder andere Naturkatastrophe kann ihre komplettes Leben zerstören. Aussichten auf Bildung, Freiheit oder ein besseres Leben für die Kinder gibt es kaum.
In den Städten hingegen entsteht Kultur und Fortschritt. Es gibt Schulen und Arbeitsplätze und ein Gesundheitssystem. Es entstehen Innovation, fast alle Patente weltweit entstehen in Städten und den dort gelegenen Universitäten und Forschungseinrichtungen.
Und es entsteht sozialer Aufstieg. Brand zitiert Studien über Slumbewohner, von denen nach einigen Generationen keiner mehr im Slum leben muss. Der Slum wird als ein bunter innovativer Lebensraum gezeichnet, in den es Menschen auf der Suche nach dem individuellen Glück aus prekären Situationen auf dem Land zieht.
In den Städten entsteht Freiheit. Und Gleichberechtigung für Frauen. Sie müssen nicht mehr ganze Tage damit verbringen, Wasser aus entfernten Brunnen zu holen. Und sie müssen nicht mehr viele Kinder bekommen, wie auf dem Land, wo dies der beste Weg der Altersvorsorge wäre. Und können vielleicht sogar in die Schule gehen und medizinische Versorgung erhalten.
Städte sind also super für die Menschen. Und sie können auch gut für die Umwelt und das Klima sein. In Städten wird pro Kopf viel weniger Land benötigt als auf dem Land. Die Versorgung der Menschen ist einfacher, Versorgungs- und Transportwege sind kürzer und es gibt weniger Bedarf für Individualverkehr.
These 2: Kernkraft ist gut für den Planeten.
Als Teil der frühen Umweltbewegung war Brand natürlich gegen Atomkraft. Aber als er sich näher mit dem Thema beschäftigte, kam er zu dem Schluss, dass es sich um eine jener Technologien handelt, die umso weniger angsteinflößend ist, je mehr man über sie weiß.
Er beschreibt seinen Geisteswandel zum Thema Kernkraft anhand der Überlegung, welches Risiko tatsächlich bei der Endlagerung von radioaktiven Reststoffen entstehen: Es könnten in vielen hundert Jahren geringe Mengen bis dahin kaum noch radioaktiver Stoffe in tiefe Gesteinsschichten austreten.
Aber entweder hat die Menschheit bis dahin ganz andere Sorgen oder aber wahrscheinlich so hochentwickelte Technologie, dass sie den Austritt beheben werden kann oder gar die Reststoffe als Brennstoffe nutzen kann.
Darum sollten wir keine endgültige Entscheidungen für die zukünftigen Generationen treffen über den Verbleib der Reststoffe. Ein Vorbild soll Kanada sein: Dort werden radioaktive Reststoffe für bis zu 175 Jahre in der jeweiligen Kernkraftanlage gelagert. Erst dann werden sie in eine Tiefenendlagerung überführt. So bliebe künftigen Generationen genug Zeit, eine eventuell bessere Verwendung für die Reststoffe zu finden.
Als Hauptargumente für die Atomkraft führt er ins Feld, dass diese
- Grundlastfähig sind: Also rund um die Uhr verlässlich Strom liefern, was erneuerbare Energien nur über zusätzliche Energiespeicher können.
- Einen minimale Flächenverbrauch haben: Kernkraftwerke erzeugen sehr viel Strom auf sehr kleinem Raum mit nur sehr wenig Brenn- und Baustoffen.
- Ein Teil der Lösung des Klimawandels: Nach der Theorie der „Stabilization Wedges“ reicht nicht eine einzelne Maßnahme, um den Klimawandel zu stoppen, sondern es müssen diverse Maßnahmen gleichzeitig angewendet werden [1]. Kernkraft ist einer dieser Maßnahmen.
- Zentrale Infrastruktur: Eine Aufgabe von Staaten ist es, Infrastrukturen zur Verfügung zu stellen. Eine saubere Energiequelle wie die Kernkraft ist daher eine zentrale Aufgabe eines Staates.
Gleichzeitig geht er auf alle möglichen bekannten Argumente gegen Kernkraft ein. Brand beklagt, dass die Kernkraftgegner in Absoluten diskutieren – Aussagen die sofort eine weitere Diskussion beenden:
- Kernkraft sei nicht sicher
- Kernkraft sei zu teuer
- Nukleare Reststoffe kann man nicht sicher lagern
- Kernkraft könne zum Bau von Atomwaffen eingesetzt werden
Statt diese Aussagen als Absolute zu betrachten, ruft Brand dazu auf, sie als eine Herausforderung zu sehen. Denn das regt zum Denken an und man kann sich die Frage stellen, wie sich die Herausforderung lösen lässt. Und bei einer lösungsorientierten Betrachtung erscheinen die Gegenargumente auch gar nicht mehr so unlösbar.
These 3: Gentechnik ist gut für den Planeten.
Lebewesen auf unserem Planeten und verändern ihre Gene ständig und kontinuierlich. Das ist ein natürlicher Prozess.
In der Landwirtschaft werden schon immer verschiedene Methoden eingesetzt, die auf das Ändern des Genoms von Pflanzen abzielt. Pflanzen werden gezüchtet, gekreuzt oder radioaktiv bestrahlt, um nützliche Mutationen hervorzurufen.
Es gibt keinen Grund, dass ein gezieltes Manipulieren einzelner Gene schlimmer sein sollte. Dabei hat Gentechnik hat immenses Potential. Pflanzen können so verändert werden, dass sie einen gerigeren Pestizidbedarf, gerigeren Düngemittelbedarf oder Resitenzen gegen Schädlinge, Dürren oder Überschwämmungen haben.
Gentechnik ist eine erprobte Technologie mit einer langen Erfolgsgeschichte. Sie hat bereits Millionen Menschen vor dem Hungertod bewahrt hat und ist seit vielen Jahren weltweit im EInsatz. Eine Ökopragmatische Bewegung sollte die Chancen nutzen, die Gentechnik mit sich bringt.
These 4: Wir sollten viel mehr Ökosysteme wiederherstellen.
Eigentlich ein No-Brainer, dem jeder zustimmen kann. Naturschutzgebiete und Renaturierungen gehören zu den Standardmaßnahmen der Umweltbewegung.
Aber gemäß dem Motto, dass wir „Planetcraft“ betreiben müssen, geht Brand noch einen Schritt weiter. Er ruft dazu auf, die Ökosysteme zu verstehen und dann zu einem möglichst idealen und gesunden Zustand zu formen. Hierzu schlägt er vor:
- Dominante eingewanderte Arten auszurotten
- Naturparks zu verbinden
- Flora und Fauna wirksam zu steuern
- Bestehende Flora und Fauna bei Bedarf genetisch zu verbessern
- Große Land- und Raubtiere auszuwildern
- Ausgestorbene Tierarten zu klonen und auszuwildern
Für das Wissen um die Ökosysteme sollen lokale Gruppierungen in die Projekte einbezogen werden.
These 5: Wenn sonst nichts hilft: Geoengineering
Was soll aber passieren, wenn uns nichts gelingt und der Klimawandel immer schlimmer wird? Wenn tatsächlich die Gesellschaft vor einem Kollaps steht? Es wäre laut Brand weise, sich vorher Gedanken zu machen, welche anderen kurzfristigen Maßnahmen in diesem Fall noch helfen könnten.
Ideen und Ansätze hierzu gibt es einige, die Brand in seinem Buch nur kurz anreißt:
- Aerosole in der Atmosphäre, die einen Teil der Sonneneinstrahlung abfangen
- Künstlich erzeugte Wolken
- Künstliche Algenblüten, um CO2 aus der Atmosphäre zu ziehen
- Eine Aufhellung der Meeresoberfläche, so dass ein größerer Teil der Sonneneinstrahlung reflektiert wird
- Oder gar ein künstliches Sonnensegel zwischen Erde und Sonne, um einen Teil der Strahlung abzufangen
Diese Maßnahmen sind gefährlich und vor ihrem Einsatz sind noch einige offene Fragen zu klären:
- Wie sollen die Entscheidungen getroffen werden, wie das Geoengineering eingesetzt werden soll?
- Wer soll die Maßnahmen finanzieren, wer soll sie durchführen?
- Wie ist sichergestellt, dass die Maßnahmen nicht alles noch viel schlimmer machen?
Brand zieht die Analogie zu dem Vorgehen zur Abwehr eines drohenden Meteroiteneinschlages: Für dieses Thema wurde ein weltweites Panel eingerichtet und alle potentiell relevanten Himmelskörper katalogisiert. Sie werden beobachtet. Für den Fall der Fälle wurden Methoden entwickelt, wie der Meteroit gesprengt oder aus seiner Bahn geschoben werden kann, so dass er die Erde verfehlt.
Ein solches Panel könnte es auch für Geoengineering geben, dass ab einem gewissen Schwellenwert des Klimawandels die Entscheidungsgewalt über angemessene Maßnahmen übertragen bekommt.
Wie könnte eine neue grüne Bewegung aussehen?
Brand hält die klassische grüne Bewegung für zu ideologisch, in ihren eigenen Traditionen festgefahren und zu linkslastig, um ihrer neuen Verantwortung gerecht zu werden. Immerhin muss sie Dank des Klimawandels nicht mehr nur den Planeten vor den Menschen schützen, sondern nunmehr auch die Menschen vor dem Planeten.
Dieser Verantwortung kann nur eine Ökopragmatische neue Bewegung nachkommen, die eben alle Menschen und Methoden aller politischer Lager mit einschließt.
Er kommt zu der Einschätzung, dass sich vielleicht eines Tages die Umweltbewegung aufspalten muss. In die klassische Umweltbewegung und ihren Traum von dem dezentralen „zurück zur Natur“ und eine neue, ökopragmatische Art von Umweltbewegung, die er die „blaugrünen“, die „Türkisen“ oder die „Post-Umweltbewegung“ nennt.
Und beide Bewegungen könnten eines Tages zusammenarbeiten, die einen Naturschutzgebiete errichten und die anderen diese mit gentechnisch resistenteren oder vielleicht ausgestorbenen Tieren besiedeln. Die einen Solaranlagen auf Dächern platzieren, die anderen Metropolen mit emissionsfreiem Atomstrom versorgen. Und die einen durch clevere Fruchtfolgen und lokales landwirtschaftliches Wissen die Erträge erhöhen, während die anderen mit Gentechnik immer resistentere und ertragreichere Sorten entwickeln.
Zukunftsvorhersagen?
Es ist immer spannend ein etwas älteres Buch zu lesen und die enthaltenen Zukunftsvorhersagen zu überprüfen. Der große Optimismus und die Aufbruchstimmung in Sachen Atomkraft, die Brand an den Tag legt, sind im Jahr nach dem Erscheinen des Buches an dem Reaktorunglück von Fukushima zerbrochen.
Und auch sonst ist es spannend, die Themen nachzuverfolgen, die Brand in dem Buch als Zukunftsthemen darstellt. Viel hat sich leider in seinen Themen nicht getan: NGOs blockieren noch immer GMOs wie den Golden Rice, der Millionen Menschen helfen würde [1]. Niemand hat Wollmammuts geklont und ausgewildert. Und es gibt leider noch immer kein Gerät, mit dem man schnell und unkompliziert Tiere und Pflanzen genetisch untersuchen kann.
Wenigstens wurde der Satellit DISCOVR fünf Jahre nach Veröffentlichung des Buches in den Lagrange Punkt P1 der Erde geschossen und liefert von dort aus tagesaktuelle Aufnahmen unseres Planeten.
Fazit
Stewart Brands Buch „Whole Earth Discipline: An Ecopragmatist Manifesto“ ist ein extrem lesenswertes Buch voller kreativer Denkansätze und Ideen. Ich war immer wieder überrascht, was ich auch bei mehrmaligem Lesen noch an neuen Ideen mitnehmen konnte.
Das Buch geht mit der klassischen grünen Umweltbewegung hart ins Gericht, begründet aber schlüssig die Vision: Einen Planeten, dessen Ökosysteme wir Menschen kennen, steuern und verbessern. Und uns selber dabei immer wieder ergebnisoffen hinterfragen, was der beste Weg zu dem Ziel ist.
„We are as Gods so we HAVE to good at it!“
Stewart Brand